Klima in Zürich: Die ZB zeigt Johann Jakob Scheuchzer als Pionier (2024)

Als erster Schweizer hat Johann Jakob Scheuchzer im 18.Jahrhundert meteorologische Messungen vorgenommen. Die Zürcher Zentralbibliothek widmet dem grossen Gelehrten eine eindrückliche Ausstellung: Sie führt tief in die europäische Klimageschichte.

Claudia Mäder

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Klima in Zürich: Die ZB zeigt Johann Jakob Scheuchzer als Pionier (1)

Was wäre, wenn es einige Grade wärmer wäre in der Schweiz? Manchen mag es gefallen, sich ein solches Szenario vorzustellen: Wenn Schnee und Eis verschwänden, entstünde mehr Platz für Weiden und Wiesen, man könnte an neuen Orten Gärten anlegen und Pflanzen züchten. Eine gute Sache? Wer so denkt, ist wahrlich mit «blöder Vernunft» geschlagen.

Denn beim Abschmelzen unserer grossen Eisgebirge würde der Wasserhaushalt kollabieren; Flüsse und Bäche würden überlaufen, Äcker vernichten und überall, auch bei «Franzosen, Teutschen und Italiänern», schlimme Schäden anrichten. Und wenn das Eis erst einmal ganz weg wäre, würde eine entsetzliche Trockenheit herrschen «und unsers fruchtbare glükliche Schweitzerland in kurzer Zeit verwandelt werden in ein wüstes sandichtes Arabien».

Das ist natürlich keine heutige Betrachtungsweise. Arabien als wüst zu bezeichnen, würde im 21.Jahrhundert wohl niemand mehr wagen. Man könnte damit Gefühle verletzen. Im 18.Jahrhundert dagegen waren solche Sätze noch unproblematisch: Johann Jakob Scheuchzer formulierte sie anno 1716.

Der Zürcher war einer jener Universalgelehrten, deren Schaffenskraft einen sprachlos macht. 1672 geboren, studierte Scheuchzer Naturphilosophie und promovierte in Medizin, ehe er sich mit Botanik und Geologie zu beschäftigen begann, Mathematikprofessor und schliesslich auch Stadtarzt wurde. Über Jahrzehnte hinweg korrespondierte Scheuchzer zudem mit der internationalen Gelehrtenwelt, gut 6000 Briefe haben sich erhalten – neben Dutzenden von Büchern und Artikeln, versteht sich.

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Mit seinen Forschungen und Publikationen, die sich schwerpunktmässig um die Schweizer Naturgeschichte drehten, hat Scheuchzer nicht nur dem Alpentourismus den Weg bereitet. Er hat auch das Aufklärungsdenken in Zürich verankert und der Stadt den Anschluss an die wissenschaftlichen Zentren in Deutschland, England und den Niederlanden gesichert.

Täglich wird gemessen

Johann Jakob Scheuchzer ist vor 350 Jahren geboren worden. Das Jubiläum hat die Zentralbibliothek Zürich (ZB), die den Nachlass des Forschers bewahrt, zum Anlass für eine Ausstellung genommen. Diese rückt jedoch weniger den Mann als eines seiner vielen Interessengebiete ins Zentrum: Scheuchzer war einer der ersten Schweizer, die sich um die Erforschung von Meteorologie und Klima bemühten. «Wind und Wetter» heisst folglich Scheuchzers Geburtstagsschau.

Natürlich setzte man sich hierzulande schon lange vor Scheuchzers Tagen mit der Witterung auseinander. In Zürich hat etwa der Propst Wolfgang Haller ab 1545 einen Wetterkalender geführt und täglich notiert, ob «sunnschyn» oder «näbel», Wärme oder Kälte herrschte. Deskriptive Aufzeichnungen dieser Art werden in der modernen Forschung ausgewertet, sie können beispielsweise Hinweise auf die Dauer der Winter geben.

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Scheuchzer aber hob die meteorologische Beobachtung in der Schweiz auf ein neues Niveau: Wo bis dahin nur beschrieben wurde, nahm er Messungen vor. Der Zürcher besass ein Thermo- sowie ein Pluviometer, er brachte einen Pegel an der Limmat an und erhob täglich alle möglichen Daten: Luftdruck, Temperatur, Niederschlagsmenge. War der Forscher auf Reisen, was des Öftern vorkam, mussten seine Familienmitglieder die Zahlen des Tages erfassen.

Erstmals entstanden so Datenreihen. Und da Scheuchzer seine Messergebnisse mit Forscherkollegen im Ausland austauschte, konnte er auch beginnen, Wetterentwicklungen in einem grösseren Rahmen zu untersuchen.

Blutregen? Eher nicht

Alles, was sich am Himmel tat und zeigte, unterzog Scheuchzer einer kritischen Prüfung. Rotfärbungen der Luft beispielsweise pflegten seine Zeitgenossen als «Blutregen» zu sehen. Mit dieser Interpretation konnte der Zürcher wenig anfangen. Vom Saharastaub, der die Färbung bewirkt, wusste er zwar noch nichts. Doch schien es ihm höchst unwahrscheinlich, dass es «jemalen in der Welt Blut geregnet habe». Eher konnte er sich vorstellen, dass die roten Tröpflein von Vögeln oder Ungeziefer stammten.

Als Aufklärer war Scheuchzer bestrebt, natürliche Ursachen zu finden für die Dinge, die sich ihm auf der Erde präsentierten. Der Forscher entmystifizierte die Welt – ohne aber ausschliesslich auf den Verstand zu setzen. Im Gegenteil: Scheuchzer war ein gläubiger Protestant, und seine ganze wissenschaftliche Arbeit war darauf ausgerichtet, die göttlich geprägten Naturgesetze zu entdecken.

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Der Schöpfer, davon war Scheuchzer überzeugt, hatte alles zum Besten eingerichtet – nicht zuletzt eben auch das Klima. Dank himmlischer Fügung, hielt der Zürcher fest, seien die Temperaturen in der Schweiz gerade richtig: nicht zu hoch, nicht zu tief, sondern wie alles in der Natur «in gewisser Mass, Zahl und Gewicht so ordentlich ausgetheilet», dass der Mensch nur staunen und Gott als erhabenen Weltenbaumeister lobpreisen könne.

Dass das Klima im Verlauf der Menschheitsgeschichte grosse Schwankungen gekannt hatte, konnte Scheuchzer noch nicht wissen. Die erste Theorie zur Eiszeit etwa entstand erst knapp hundert Jahre nach seinem Tod 1733 – in der ZB weist eine Vitrine auf die entsprechenden Forschungen eines anderen Schweizers, Ignaz Venetz, hin.

Elf Monate Trockenheit

Rund um Scheuchzer spannt die Schau einen grossen zeitlichen Bogen und beschäftigt sich mit dem Zürcher Klima von der Steinzeit bis zur heutigen Erderwärmung. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Kleine Eiszeit, die ab dem ausgehenden Mittelalter für eine merkliche Abkühlung sorgte und das Leben veränderte – nicht nur jenes der Menschen. Rund zwanzig Vogelarten, die Conrad Gessner, ein anderer Zürcher Universalgelehrter, noch im 16.Jahrhundert als einheimische Spezies beschrieben hatte, haben infolge der Kälte die Schweiz verlassen.

Die Schönheit dieser Tiere – in der Schau sind Präparate von einigen der ausgeflogenen Vögel zu sehen – kontrastiert mit grauenvollen Bildern. Frühneuzeitliche Chroniken haben die Folgen von Ernteausfällen und anhaltend nasskalter Witterung auf Illustrationen festgehalten: Verhungernde Kinder stecken sich in letzter Verzweiflung Grasbüschel in die Münder, Menschen treiben kopfunter durch Überschwemmungsgebiete.

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Doch auch andere Extreme gab es in jener grundsätzlich kühlen Phase. Im Jahr 1540 beispielsweise fiel elf Monate lang kein Regen, verheerende Waldbrände und Dürren plagten ganz Westeuropa, der Rhein trocknete genauso aus wie die Limmat: Das im Fluss stehende Wellenberg-Gefängnis war 1540 zu Fuss erreichbar.

Sozialprojekt und Hexenwahn

Das ist ja wie heute oder noch viel schlimmer!, ist man hier versucht zu sagen. Und natürlich: Schreckliche Dürren, Hitzeperioden oder Überschwemmungskatastrophen hat es immer schon gegeben. Doch der Rückblick in die Geschichte soll nicht dazu dienen, unsere heutigen Probleme zu relativieren. Seit drei Jahrzehnten vollzieht sich der Anstieg der Temperaturen mit einer Rasanz, die man in den letzten 2000 Jahren vergeblich sucht; durch seine Emissionen ist der Mensch zu einem Einflussfaktor geworden, mit dem man bis zur Industrialisierung nicht rechnen musste.

Nein, der Blick in die Geschichte kann nichts relativieren, bestenfalls aber unsere Aufmerksamkeit schärfen – und ebendas gelingt in der ZB auf glänzende Weise. Die klug gemachte Schau zeigt nämlich immer wieder, auf wie vielen unterschiedlichen Ebenen sich die früheren Gesellschaften wandelten, auf welch vielfältige Arten die Menschen reagierten, wenn sich das Klima veränderte.

In der Kleinen Eiszeit etwa sind nicht nur verstärkte Auswanderungsbewegungen dokumentiert. Die Stadt Zürich lancierte in einem besonders schlimmen Hungerjahr auch ein «Sozialprojekt»: Sie liess die Strasse nach Gockhausen bauen, um der leidenden Bevölkerung etwas Lohn und somit Nahrung zu verschaffen. Zugleich wurde damals in ganz Europa intensiv nach den Schuldigen für die miserable Witterung gefahndet: Die Hexenverbrennung erreichte traurige Höchststände.

Der Glaube an dämonische Kräfte, die in böser Weise aufs Wetter einwirken, ist in der Aufklärungszeit verschwunden – auch dank Leuten wie Johann Jakob Scheuchzer, der natürliche Phänomene auf vernünftige Weise zu erklären versuchte. Aber auch künftige klimatische Veränderungen werden zu gesellschaftlichen Verwerfungen führen und Anpassungen erfordern. Ob diese sich in der rationalen Harmonie vollziehen werden, die laut Scheuchzer das Weltengefüge prägte, muss sich erst noch weisen.

Wind und Wetter. Das Klima in Zürich seit der Steinzeit. Zentralbibliothek Zürich, Schatzkammer im Predigerchor. Bis 9.Dezember.
Der Kurator der Ausstellung, Urs B.Leu, hat im Sommer eine Scheuchzer-Biografie veröffentlicht: «Johann Jakob Scheuchzer. Pionier der Alpen- und Klimaforschung» ist im Chronos-Verlag in Zürich erschienen.

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Der Mann, der alles wissen wollte: Wie Johann Jakob Scheuchzer die «natürlichen Wunder» der Schweizer Alpen erforschte Wer etwas wissen will, kann verschiedene Wege gehen. Zum Beispiel einen Fragebogen entwerfen. Das hat Johann Jakob Scheuchzer 1699 getan. Er wollte alles über Menschen, Tiere, Pflanzen und Steine in den Schweizer Bergen erfahren. Das Unternehmen war wegweisend. Aber erfolglos.

Urs Hafner

Interview Naomi Oreskes: «In der Klimafrage allein auf Rettung durch den innovativen Markt zu setzen, ist eine neue Form der Leugnung» Über den Klimawandel wird seit mehr als einem halben Jahrhundert gesprochen. Die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes hat die lange Geschichte der Debatte intensiv studiert. Im Interview erklärt sie, warum wir so viel Zeit verloren haben und was wir von technologischen Innovationen erwarten können.

Claudia Mäder

«Wie ein schwarzgraues Eisstück in der Wüste» – die Gletscher in der Schweiz schrumpfen derzeit im Rekordtempo Mitte Juli war schon viel mehr Eis abgeschmolzen als erwartet. Darum mussten Messungen vorgezogen werden. Viele Gletscher werden dieses Jahr wohl noch mehr Eis verlieren als im Hitzesommer 2003.

Sven Titz

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