Johann Jakob Scheuchzer: Der Mann, der alles wissen wollte (2024)

Wer etwas wissen will, kann verschiedene Wege gehen. Zum Beispiel einen Fragebogen entwerfen. Das hat Johann Jakob Scheuchzer 1699 getan. Er wollte alles über Menschen, Tiere, Pflanzen und Steine in den Schweizer Bergen erfahren. Das Unternehmen war wegweisend. Aber erfolglos.

Urs Hafner

Johann Jakob Scheuchzer: Der Mann, der alles wissen wollte (1)

Die Naturwissenschaften sind nicht immer wissenschaftlich gewesen. Manchmal sind sie sogar chaotisch vorgegangen, etwa wenn Johann Jakob Scheuchzer am Werk war. Der Zürcher gehörte Anfang des 18.Jahrhunderts zu den prominentesten Naturforschern Europas. In Altdorf bei Nürnberg und in Utrecht hatte der Sohn des Stadtarztes Medizin studiert, beschäftigte sich dann aber lieber mit Geografie, Biologie, Geologie und Klimatologie.

Er war Mitglied der Royal Society in London, der Preussischen Akademie der Wissenschaften in Berlin und der kaiserlichen Leopoldina in Wien. In der Zwinglistadt dagegen verfolgte man seine Forschungen mit Argwohn. Obschon Scheuchzer gläubig war (eines seiner Spezialgebiete war die Sintfluttheorie), witterte man Angriffe auf die reformierte Orthodoxie.

Orthodox war Johann Jakob Scheuchzer tatsächlich nicht. Eine unbändige Wissenslust trieb ihn an. Um mehr über die alpinen Regionen der Schweiz und deren «natürliche Wunder» zu erfahren, verschickte Scheuchzer 1699 einen detaillierten Fragebogen – nicht nur an befreundete Gelehrte, Ärzte und Pfarrer, sondern auch, dies jedenfalls sein Plan, an Sennen und Hirten.

189 Fragen

Das Forschungsprojekt ist einzigartig: Eine der ersten systematischen Untersuchungen überhaupt sollte es sein. Und es sollte die Grenzen der akademischen Welt überschreiten. Dass Scheuchzer dem einfachen Landvolk das Wort geben wollte und barbarischen Hirten, dürfte dazu geführt haben, dass die Obrigkeit sich in ihren Vorbehalten bestärkt sah. Noch hatte die Alpenbegeisterung die gebildeten Schichten nicht erfasst. Es war kein Modethema, das Scheuchzer sich vorgenommen hatte.

Seine Alpen-Enquête war ein einmaliges Unternehmen, seiner Zeit weit voraus. Von Erfolg gekrönt war es allerdings nicht. Die Rücklaufquote der Fragebögen war, soviel man weiss, gering, Sennen haben sich an der Umfrage nicht beteiligt. Kein Wunder: Der Bogen umfasste 189 teilweise offen formulierte Fragen. Um sie zu beantworten, musste man nicht nur lesen und schreiben können. Man brauchte auch viel Zeit. So wie sie geplant war, erschien Scheuchzers Publikation nie. Die Ergebnisse der Untersuchung flossen aber in verschiedene Publikationen ein, vor allem in die «Natur-Historie des Schweitzerlandes» (1716–1718).

Simona Boscani Leoni, Historikerin an der Universität Bern, hat Scheuchzers Fragebogen und, mit Fokus auf Graubünden, Scheuchzers mehrheitlich in Latein formulierte Einladungsschreiben und die brieflichen Reaktionen darauf auf Deutsch herausgegeben. Komplettiert wird der auch online vorliegende Band durch Zeichnungen, die Scheuchzer auf seinen Bündner Reisen anfertigte. Sein Grundwissen erwarb der rastlose Forscher auch im Feld und vor Ort – er brauchte es umso mehr, als die schriftlichen Antworten ausblieben.

Haben Drachen Füsse?

Was wollte Scheuchzer wissen? Alles! Was man machen müsse, damit eine Kuh mehr Milch gebe. Welche Arten von Käse und Ziger man kenne – Schabziger, Rumpfziger, Weiss- oder Rauch-Ziger zum Beispiel – und wie man sie herstelle. Welche Metalle und Steine man da vorfinde, wo man lebe – wobei Scheuchzer schon rund 25 Gesteinsarten aufzählt. Welche Pflanzen und Tiere dort lebten und was sie ässen – auch da ist Scheuchzer gut vorbereitet und nennt allein rund vierzig Insektenarten.

Dann will er wissen, wie Missgeburten entstünden. Was geschehe, wenn einem in der Kälte die Geschlechtsteile abfrören – ob man dann sterbe? Und vieles mehr: Wie die Luft, die Wolken und der Schnee beschaffen seien, wie hoch die Berge seien, ob es dort Riesen gebe und geflügelte Drachen. Ob die Drachen Füsse hätten oder nicht – und «was sie dem Menschen oder Vieh vor Schaden thüind [tun] mit Wegstälung der Milch etc.?».

Die Alpen und ihre Gebirge, sie sind für Scheuchzer eine fremde, unheimliche, aber auch eine attraktive Welt, die erfüllt ist mit althergebrachten, ihm unbekannten Wissensbeständen. Vielleicht leben dort oben Wesen, von denen man unten im Flachland noch nie etwas gehört hat, wer weiss – die Beschaffenheit der Höhenluft lässt vieles möglich erscheinen.

Aus heutiger Sicht mag man über die Naivität des Forschers lächeln. Aber in der radikal vorurteilslosen und erkenntnisoffenen Haltung zu seinen Untersuchungsobjekten steht Johann Jakob Scheuchzer den Pionieren der Ethnografie des 20.Jahrhunderts recht nahe. Und bei aller Liebe zu seinem Land ist er kein Chauvinist.

Gelehrte Weibspersonen

Eines seiner Einladungsschreiben sendet er an die verwitwete Hortensia Gugelberg von Moos, geborene von Salis, eine Vorfahrin der antidemokratischen Frauenrechtlerin Meta von Salis. Beschlagen in Philosophie, Botanik, Theologie, Medizin und Geologie, korrespondiert sie mit vielen Gelehrten, unter anderem mit Scheuchzers früheren Lehrern am Carolinum Zürich, der theologischen Hochschule. Eine ihr gewidmete anonyme Schrift spricht sich für die verbesserte Stellung der Frauen aus.

Die Menschen hätten sich angemasst, eröffnet Scheuchzer seinen Brief an Hortensia Gugelberg von Moos in leicht theologischem Tonfall, Politik zu machen und Gelehrsamkeit zu betreiben – gewiss aber sei es, fährt er dann weiter, dass die Frauen dazu nicht weniger fähig seien als die Männer, ja das weibliche Geschlecht sei ebenso vernunftbegabt wie diese, davon zeugten «100 ja 1000 Exempla gelehrter Weibspersonen in allen Länderen, Ständen, und Wissenschaften».

Hundert oder tausend? Die Differenz ist verdächtig gross. Der Zürcher Bürger schmeichelt der deutlich älteren Bündner Adligen, von der er sich Unterstützung für sein Vorhaben erhofft. In weiteren Briefen könnte man auch Unterwürfigkeit oder Verliebtheit vermuten – ihre Antworten sind leider nicht überliefert. Unbestreitbar aber ist der Respekt des männlichen vor der weiblichen Gelehrten – ein Respekt, der im modernen Wissenschaftssystem des 19.Jahrhunderts verloren ging.

Simona Boscani Leoni (Hg.): «Unglaubliche Bergwunder». Johann Jakob Scheuchzer und Graubünden. Ausgewählte Briefe 1699–1707. Unter Mitarbeit von Jon Mathieu und Bärbel Schnegg. Institut für Kulturforschung (Cultura alpina, Bd.9), Chur 2019. 169S., Fr. 32.–.

Scheuchzer und sein Gelehrten-Netzwerk Die Zürcher Zentralbibliothek zeigt in ihrer neuen Ausstellung den Zürcher Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer als Frühaufklärer und Teil eines Netzes von Gelehrten.

Adi Kälin

Das beste erreichbare Wissen der Zeit Ruhm Conrad Gessner war ein berühmter Mann: Als er am 13. Dezember 1565 starb, galt er als Kapazität. Bei Kaiser Ferdinand I. hatte er in hoher Gunst gestanden, seine Bücher waren Standardwerke und figurierten auf dem päpstlichen Index verbotener Schriften

Thomas Ribi

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